Eine ausschließlich an medizinischen Kriterien orientierte Diagnostik der ADHS-Problematik vernachlässigt die psychodynamischen Aspekte und bietet wenig Möglichkeiten für prophylaktische Maßnahmen. Im vorliegenden Beitrag wird ein Entwicklungskonzept vorgestellt, das die Wechselseitigkeit der Beziehungen als grundlegendes Entwicklungselement von der Schwangerschaft an thematisiert. Dabei wird Bezug genommen auf Vorstellungen von Stern ("Gefühl der Urheberschaft", "Abstimmung") und Winnicott ("Raum der Möglichkeiten/Fähigkeiten"). Zur Ausbildung von Empathie und der Fähigkeit zur Affektregulation gehört auch der Umgang mit Störungen im Sinne von "Unterbrechung und Wiederherstellung".
Prospektive Langzeitstudien haben gezeigt, dass eindringendes und überstimulierendes Pflegeverhalten in der Säuglingszeit mit der Entwicklung einer ADHS-Problematik im Kleinkind- und Schulalter korreliert. Belastungen in der Schwangerschaft durch Angst und Stress gehen bei den Kindern ebenfalls häufig mit dem Bild einer späteren ADHS einher. Die methodischen Probleme solcher Studien werden ebenso diskutiert wie Befunde aus Genetik und Hirnforschung. Ausschlaggebend ist dabei die Erfahrung von Ohnmacht und damit ein Mangel an entwicklungsfördernden Faktoren im Sinne des oben dargestellten Konzepts. Die Symptomatik der ADHS (Hyperaktivität, verminderte Aufmerksamkeit, Impulsivität) kann in diesem Kontext als eine Bewältigungsstrategie, die ihr Ziel jedoch nicht erreicht, verstanden werden.
Für prophylaktische Maßnahmen erscheint es vor allem bedeutsam, Schuldgefühle abzubauen und eine entwicklungsfördernde Interaktion in den Familien und ihrem sozialen Netzwerk so früh wie möglich zu fördern. Die Wechselseitigkeit verlangt dabei ein komplexes nichtlineares Denken und Handeln.